Bomben auf Kinderklinik? Biologische Waffen? Der Kampf um die Wahrheit im Ukraine-Krieg - ein Überblick
Faschisten in Kiew und biologische Waffen der USA? Zugleich ein Streit um die Hintergründe eines Angriffs auf einer Kinderklinik. Der Kampf um die Wahrheit im Ukraine-Krieg tobt.
Kiew/Moskau - Im Krieg stirbt zuerst die Wahrheit - so heißt es in einem alten und über Wahrheitszweifel weithin erhabenen Sprichwort. Allerdings war schon vor der Invasion Russlands in die Ukraine* kräftig gelogen worden. So schilderte es jedenfalls unter anderem Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne).
So richtig in den Fokus des Westens rückt der Streit um Fakten, Behauptungen, Inszenierungen zwischen Kiew und Moskau aber erst jetzt wieder. Stein des Anstoßes ist unter anderem ein massiver Angriff auf das Gebäude einer Kinderklinik in der von harten Kämpfen gebeutelten Stadt Mariupol. Dass es die Attacke gab, räumt selbst Russland ein. Doch völlig unterschiedliche Standpunkte gibt es zur Frage, wer sich in dem Krankenhaus befand.
Ukraine-Krieg: Lawrow wiederholt russische Vorwürfe - Kampf um die Wahrheit tobt
Klar ist: Eine Pressekonferenz des russischen Außenministeriums vermittelt einen völlig anderen Eindruck der Kriegs-Lage als eines der Statements des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj*. Und nichtsdestotrotz spielen Fotos, Nachrichten, Behauptungen eine massive Rolle bei der Einschätzung der Situation in der Ukraine. Und bei der Rechtfertigung des Kriegsgeschehens. Gleichwohl lässt sich das wenigste der Vorgebrachten unabhängig prüfen.
Einen erstaunlichen Spin präsentierte Wladimir Putins Außenminister Sergej Lawrow am Donnerstag nach Verhandlungen in der Türkei der versammelten Weltöffentlichkeit: Russland habe die Ukraine nicht überfallen, betonte er. Es gehe um eine Friedensmission, erklärte er erneut. Und erhob weitere Vorwürfe gegen die ukrainische Regierung, die im Westen auf größte Zweifel stoßen. Ein Überblick über die aktuellen Fronten im Krieg um die Wahrheit:
Krieg in der Ukraine: Biologische Waffen? USA und Russland beschuldigen sich gegenseitig
Der konkrete Fall: Lawrow wies am Freitag auf Fragen westlicher Journalisten nicht nur zurück, dass Russland die Ukraine überfallen habe - er spricht zudem lange von der Gefahr biologischer Waffen, mit denen die USA in der Ukraine experimentierten*.
Das größere Bild: Es handelte sich um eine Variation einer bekannten Geschichte: Jener, dass die Ukraine nukleare oder biologische Waffen entwickele. Erst am Montag behauptete das russische Verteidigungsministerium, in der Ukraine gebe es ein Netzwerk von Bio-Laboren, die im Auftrag des US-Verteidigungsministeriums arbeiteten. Das Pentagon bezeichnete die Vorwürfe als „absurd“, „lächerlich“ und „unwahr“.
Darüber hinaus gibt es den Vorwurf, die russische Anschuldigung sei nicht nur ein Vorwand für den Krieg, sondern auch Vorzeichen für eine eigene Regelüberschreitung: Die US-Regierung warnte vor einem möglichen russischen Einsatz chemischer oder biologischer Waffen in der Ukraine. Moskau wolle mit der Verbreitung von Falschinformationen den Weg dafür bereiten, den ungerechtfertigten Angriffskrieg in der Ukraine weiter zu eskalieren, twitterte die Sprecherin von US-Präsident Joe Biden, Jen Psaki. Russland folge dabei einem klaren Verhaltensmuster - entweder um selbst Massenvernichtungswaffen einzusetzen, oder um einen Angriff durch die Ukrainer vorzutäuschen, um eine Rechtfertigung für die Fortsetzung des Kriegs zu konstruieren, schrieb Psaki.
Die Faktenlage: Die Vereinten Nationen wissen nach eigenen Angaben nichts über angeblich in der Ukraine produzierte Massenvernichtungswaffen. UN-Sprecher Stephane Dujarric sagte am Mittwoch in New York, der Weltgesundheitsorganisation seien „keine Aktivitäten der ukrainischen Regierung bekannt, die ihren internationalen Vertragsverpflichtungen widersprechen, einschließlich chemischer oder biologischer Waffen.“ Auch internationale Faktenchecker haben die Behauptung entkräftet.
Allerdings gibt es bislang auch keine Berichte über den Einsatz biologischer Waffen durch Russland. Anders scheint die Lage neuerdings, was die Nutzung in ihrer Wirkung verheerender „Vakuumbomben“ angeht*. Klar ist auch, dass der Internationale Strafgerichtshof gegen Russland zumindest konkret ermittelt - wegen Angriffen auf Zivilisten oder auch dem Einsatz von Streumunition.
Russische Angriffe auf eine Kinderklinik: „Barbarisches“ Kriegsverbrechen oder „Informationsterror“
Der konkrete Fall: In der belagerten Stadt Mariupol im Südosten der Ukraine ist nach ukrainischen Angaben eine Geburts- und Kinderklinik durch russischen Beschuss zerstört worden. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj schrieb im Kurzbotschaftendienst Twitter: „Leute und Kinder befinden sich unter den Trümmern.“ Er fügte hinzu: „Gräueltaten! (...) Stoppt das Töten“.
Russland weist das zurück: Man habe bereits am 7. März die Vereinten Nationen informiert, dass in der ehemaligen Klinik kein medizinisches Personal mehr sei, sondern ein Lager ultraradikaler Kämpfer des ukrainischen Bataillons Asow, sagte Lawrow am Donnerstag. Er sprach von einer „Manipulation“ der gesamten Welt mit Informationen zu mutmaßlichen Gräueltaten der russischen Armee. Seine Sprecherin Maria Sacharowa warf der Ukraine gar „Informationsterrorismus“ vor.
Die Ukraine reagierte empört. Die russische Bevölkerung sei damit belogen worden, „dass angeblich in dem Krankenhaus keine Patienten und in dem Geburtshaus keine Frauen und Kinder waren“, sagte Selenskyj am Donnerstag in einer Videobotschaft. Das sei alles „Lüge“. Bei einem russischen Angriff auf das Objekt seien drei Zivilisten getötet und 17 verletzt worden.

Das größere Bild: Der Kreml, sogar Wladimir Putin persönlich, werfen der Ukraine schon seit Kriegsbeginn vor, Zivilisten als menschliche Schutzschilde zu verwenden. Putin warnte in einer TV-Ansprache vor Methoden des Islamischen Staates und bezeichnete ukrainische Kämpfer als „drogensüchtige Bande“.
Ob Geschützstellungen oder ähnliches in Wohngebieten aufgestellt werden, lässt sich nicht im Einzelfall überprüfen. Immer wieder erreichen aber Bilder zerstörter Wohn- oder Verwaltungsgebäude die Welt. Am Montagabend etwa waren in Sumy ukrainischen Angaben zufolge mindestens 21 Menschen bei einem russischen Luftangriff auf ein Wohngebiet getötet worden. Eine besondere Wendung im vorliegenden Fall ist, dass Russland der Ukraine eine Inszenierung ziviler Opfer vorwerfen.
Die Faktenlage: Gewissheit gibt es nicht - allerdings eine Stellungnahme der UN. Trotz Vorwürfen aus Moskau, Falschnachrichten zu verbreiten, blieben die Vereinten Nationen bei ihrer Darstellung. „Wir stehen zu dem, was wir gesagt haben“, erklärte Dujarric am Donnerstag. „Der heutige Angriff auf ein Krankenhaus in Mariupol, Ukraine, wo sich Entbindungs- und Kinderstationen befinden, ist entsetzlich“, hatte UN-Generalsekretär Antonio Guterres getwittert. Diese Aussage beruhe auf UN-Informationen, hieß es nun.
Unstrittig ist auch: UN-Botschafter Wassili Nebensja hatte am Montag vor dem UN-Sicherheitsrat bezüglich Mariupol gesagt: „Wir stellen fest, dass die ukrainischen Radikalen von Tag zu Tag deutlicher ihr wahres Gesicht zeigen. Die Anwohner sagen, dass sie das Personal einer Entbindungsklinik vertrieben und dann in dieser Klinik einen Ort zum Schießen errichtet hätten.“ Über die tatsächliche Lage zum Zeitpunkt des Angriffs war damit freilich nichts gesagt.
Ukraine-Invasion Russlands: „Faschisten“ und ein „Genozid“ - die Vorwände für Putins Einmarsch
Der konkrete Fall: Russland hat seinen Angriffskrieg in der Ukraine als „Friedensmission“ - und „Spezialoperation“ gelabelt. Schon in den Tagen vor dem Einmarsch attestierte der Kreml einen „Völkermord“ in der Ostukraine. Dieser gehe bereits seit langen Jahren vor sich, hieß es. Bis vor wenigen Tagen sprach der Kreml zudem immer wieder von „Faschisten“ oder „Nazis“ in der ukrainischen Regierung.
Das größere Bild: Ein Völkermord gilt gemeinhin als legitimer Grund für ein militärisches Eingreifen. Auch Kanzler Olaf Scholz begründete unlängst bei einem Treffen mit Putin das Eingreifen der Nato in Serbien 1999 mit einem damals drohenden Völkermord. Generell sind Rechtfertigungen selbst bei Brüchen des Völkerrechts weiter von Belang, wie Experte Lars Kirchhoff unlängst Merkur.de in einem Interview erklärte.
Die Faktenlage: Unstrittig ist, dass es schon vor der Eskalation im Ukraine-Krieg immer wieder zu Kampfhandlungen an der Grenze zwischen den Separatistengebieten und der ukrainischen Armee kam. Zahlreiche in russischen Medien verbreitete Berichte zu konkreten Vorfällen stellten sich jedoch in Faktenchecks als unwahr heraus*. „Für einen Völkermord im Donbass haben weder die OSZE noch die UN Hinweise“, konstatierte zuletzt in einem Check auch fr.de*. Dass die Ukraine im Donbass einen Genozid im Wortsinne beging, scheine stark unwahrscheinlich - die Gebiete stehen schließlich unter Kontrolle der Separatisten.
Belege für eine von Russland behauptete Unterwanderung der ukrainischen Regierung durch Nazis gibt es nicht. Skurril wirken die Vorwürfe aus mindestens einem Grund: Selenskyj ist selbst jüdischstämmig.
Klar ist, dass die pro-europäische Ausrichtung der Regierung Selenskyj Russland ein Dorn im Auge ist. Der Kreml hatte schon den Sturz Viktor Janukowitschs in den „Euromaidan“-Protesten als faschistisch getragen gebrandmarkt. Diese Vorwürfe hatten zwar einen gewissen wahren Kern: So erhielt die laut Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) „ultrarechte“ Partei Swoboda 2014 für einige Monate Posten im Kabinett - nicht zuletzt aufgrund von Streitigkeiten in anderen Parteien. Allerdings schaffte ein hart-rechtes Bündnis unter Beteiligung Swobodas 2019 nicht einmal mehr den Einzug ins Parlament. Entsprechend gibt es auch in Selenskyjs Kabinett keine Extremisten. „Die Rechtsradikalen bleiben weitgehend von der nationalen ukrainischen Politik ausgeschlossen“, urteilt die bpb.
Das Internationale Auschwitz Komitee kritisierte die Behauptungen Russlands mit Blick auf die ukrainische Regierung scharf. „Sie empfinden dies als eine zynische und tückische Lüge, die nicht nur die Überlebenden des Holocaust, sondern auch all die Menschen missbraucht, die als sowjetische Kriegsgefangene in deutschen Konzentrationslagern gelitten oder als Soldaten der Roten Armee Auschwitz und andere Lager befreit haben“, erklärte Christoph Heubner, Exekutiv-Vizepräsident des Komitees, Ende Februar. (fn mit Material von dpa und AFP) *Merkur.de und fr.de sind Angebote von IPPEN.MEDIA.