Kein Geld für Erdogan: Wankt der EU-Flüchtlingsdeal mit der Türkei?

Es ist ein Deal zwischen der EU und der Türkei, der seit 2016 die Migrationsströme nachhaltig verändert hat. Offenbar ist die Abmachung aber in Gefahr. Denn in der EU will niemand zahlen.
Brüssel/Berlin - Es ist ein umstrittener Deal - aber unumstritten einer mit großen Auswirkungen: Seit das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei vor fast genau zwei Jahren in Kraft trat, sind die Ankunftszahlen von Asylsuchenden in Europa deutlich zurückgegangen - von 89 Prozent Minus im Vergleich mit 2015 sprach die EU-Grenzschutzagentur Frontex zuletzt. Für viele EU-Länder ein hoch erwünschter Effekt.
Nichtsdestotrotz könnte der Deal nun ins Wanken kommen. Grund sind offenbar Geldstreitigkeiten mit der EU. Denn die EU schuldet der Türkei in absehbarer Zeit eine Tranche von drei Milliarden Euro als Ausgleich für die Versorgung der Schutzsuchenden. Und wie das Nachrichtenmagazin Spiegel berichtet, ist die Finanzierung dieser Mittel zwischen den Mitgliedsstaaten umstritten.
Anlass für die Zwistigkeiten ist dem Bericht zufolge einerseits Unzufriedenheit mit der Verwendung der Gelder durch die Türkei. Auch mangelnde Transparenz in der Verwaltung der EU führt offenbar zu Unmut. Und schließlich wollen mehrere Staaten die nächsten drei Milliarden nicht aus den nationalen Haushalten mitfinanzieren, wie es heißt. Dauerstreit scheint nicht ausgeschlossen.
Deutschland, Österreich und Co. verlangen ein geändertes Verfahren
Aus internen EU-Dokumenten gehe hervor, dass mehrere Staaten gegen die geplante Finanzierung protestiert haben, schreibt der Spiegel unter Berufung auf gemeinsame Recherchen mit dem Netzwerk European Investigative Collaborations. Ein Vertreter der Bundesregierung habe angemahnt, die Entscheidung über die nächste Zahlung aufzuschieben: Zunächst solle abgewartet werden, ob die Türkei vereinbarte Projekte - etwa den Bau von Schulen und Krankenhäusern - tatsächlich umsetzt. Berichten zufolge hat das Land bislang weniger als die Hälfte der angedachten Maßnahmen umgesetzt.
Deutschland zählt zugleich zum Kreis der Nationen, die eine geänderte Finanzierung verlangen. Zusammen mit Frankreich, Österreich, Schweden, Dänemark und Finnland habe die Bundesregierung in einem Schreiben an die EU-Kommission gefordert, die drei Milliarden Euro komplett aus dem EU-Haushalt zu bestreiten.
Wer zahlt - Mitgliedsstaaten oder EU?
Die erste Tranche war zu einem Drittel von der Europäischen Union und zu zwei Dritteln von den Mitgliedsstaaten übernommen worden. Allein Deutschland hatte eine halbe Milliarde Euro beigesteuert. Die EU-Kommission will diesmal nach dem gleichen Prinzip verfahren und lehnt die Forderung der sechs Staaten ab.
Augenscheinlich treten nun auf diesem Wege auch die Schwächen des Deals zutage: Zum einen die hastige Machart der Abkommens. Der Deal sei 2015 „über Nacht“ ausgehandelt worden, sagte ein Mitglied des zuständigen Lenkungsausschusses. Zum anderen die schwierige Zusammenarbeit mit der Türkei. Erst jüngst hatte sich bei einem Gipfeltreffen gezeigt, wie wenig Gemeinsamkeiten es zwischen der Regierung von Recep Tayyip Erdogan und der EU gibt - eigentlich kritisieren die europäischen Staaten den Präsidenten scharf für seinen harten innenpolitischen Kurs.
Warnungen vor den Folgen des Abkommens - Ankara plant offenbar schon mit der dritten Überweisung
Einige Kritiker warnen vor einer „Erpressbarkeit“ der EU-Staaten im Umgang mit der Türkei. Und auch Menschenrechtler rügen den Pakt mit der Türkei - unter anderem wegen schlechter Bedingungen von Menschen, die wegen des Deals in Lagern festsitzen. Zuletzt hatte der österreichische Politikberater Gerald Knaus, einer der Vordenker des Abkommens, unmenschliche Zustände in den Einrichtungen angeprangert, wie merkur.de* berichtete.
Nun könnte das umstrittene Abkommen also doch scheitern - obwohl die Kommission erst im März betonte, dass das EU-Türkei-Abkommen "weiter Ergebnisse liefert". Einige EU-Staaten diskutierten bereits darüber, wie sie aus dem Deal aussteigen könnten, heißt es in dem Bericht des Spiegel. Ein Schritt, der wohl spürbare Konsequenzen für die Europäische Union hätte. Ob die Länder mittlerweile besser auf große Zahlen ankommender Flüchtlinge vorbereitet sind als noch 2015? Es scheint zumindest fraglich.
An der Türkei sollte die Fortführung indes nicht scheitern: Ankara plane internen Dokumenten zufolge bereits mit einer dritten Zahlung der EU, heißt es weiter.
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fn
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