Türkei-Deal: Flucht-Misere in Griechenland - neuer Rekord an Flüchtlingen

Zu Tausenden fliehen die Menschen noch immer vor dem Krieg in Syrien. Doch die türkische Grenze bleibt geschlossen. Auch in Richtung Griechenland. Vorerst.
Update 21. Dezember 2019: Die Asyl-Krise in Griechenland spitzt sich immer weiter zu. Grünen-Chef Robert Habeck wirbt nun um Solidarität aus Deutschland.
Update vom 3. Oktober 2019: Der EU-Türkei-Deal wackelt - Innenminister Horst Seehofer reist nun in die Türkei, um das Papier zu retten.
Update vom 28. September 2019: Um die überfüllten Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln im Osten der Ägäis zu entlasten, hat die Regierung in Athen am Samstag gut 350 Migranten aufs Festland bringen lassen. Hunderte weitere Migranten sollten am Montag nach Piräus zum Festland gebracht werden, berichtete das Staatsfernsehen (ERT). Bereits am Vortag hatte Verteidigungsminister Nikos Panagiotopoulos im Fernsehen erklärt, der Anstieg der Flüchtlingszahlen aus der Türkei nach Griechenland nehme „die Dimensionen einer Nationalen Krise an“.
Im April war die Zahl der auf den Inseln lebenden Migranten auf 14 000 zurückgegangen. Seitdem sind aber wieder verstärkt Migranten gekommen. Im August kamen nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) 8103 Migranten auf den Inseln an. Auf den Inseln Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos harren zurzeit knapp 30 000 Migranten aus. Das ist die höchste Zahl seit Inkrafttreten des EU-Türkei-Flüchtlingspaktes im März 2016.
Der Flüchtlingspakt zwischen der EU und der Türkei sieht vor, dass die EU alle Flüchtlinge und Migranten, die illegal über die Türkei auf die griechischen Inseln kommen, zurückschicken kann. Die Bearbeitung der Asylanträge kommt wegen Personalmangels jedoch auf den griechischen Inseln nur mühsam voran.
Türkei-Deal: Immer mehr Flüchtlinge erreichen Griechenland
Update vom 20. September 2019: Während der Türkei-Deal auf der Kippe steht, erreichen immer mehr Flüchtlinge Griechenland. Laut dem griechischen Ministerium für Bürgerschutz kamen allein am Donnerstag (19. September) rund 600 Menschen aus der Türkei auf den Inseln Lesbos, Chios, Kos und Samos an.
Nach Angaben des Staatsfernsehens ERT ist das ein neuer Rekord von Migranten, die in den Lagern und Camps auf den Inseln ausharren. Im April waren es insgesamt noch 14.000 Personen - heute sind es rund 28.000 Personen.
Nach dem Flüchtlingspakt zwischen der EU und der Türkei müssten alle Flüchtlinge und Migranten, die illegal in die Türkei gelangten, wieder zurückgeschickt werden. Die Bearbeitung der Asylanträge stockt allerdings. Damit erhöht sich die heikle Lage auf den Inseln immer weiter.
Laut Daten der Internationalen Organisation für Migration sind in Griechenland dieses Jahr fast 50 Prozent mehr Migranten angekommen als 2018, obwohl die gesamte Zahl der neuankommenden Migranten in der EU insgesamt sinkt.
Türkei-Deal: Flucht-Misere in Griechenland - Seehofers Ministerium stellt Forderung
Update vom 12. September 2019: Das Bundesinnenministerium hat Griechenland dazu aufgerufen, mehr Flüchtlinge in die Türkei rückzuführen. Es müsse klar sein, "dass wir dringend Fortschritte bei den zu geringen Rückführungen in die Türkei benötigen, um die heikle Lage in den Hotspots auf den Inseln zu verbessern", sagte der Parlamentarische Innen-Staatssekretär Stephan Mayer (CSU) den Funke-Zeitungen vom Donnerstag. Minister Horst Seehofer (CSU) mahnte im Bundestag eine europäische Lösung an.
Die Situation auf den griechischen Inseln sei "sehr schwierig", betonte Mayer. Besonders betroffen seien unbegleitete Minderjährige, für die dringend Verbesserungen erreicht werden müssten. Zuletzt war die Zahl der Flüchtlinge, die in Schlauchbooten von der türkischen Küste die griechischen Inseln erreichten, deutlich gestiegen.
Ankara und Brüssel hatten sich im März 2016 auf ein Abkommen geeinigt, das die illegale Einwanderung von zumeist syrischen Flüchtlingen über die Türkei nach Europa einschränken soll. Demzufolge sollen Flüchtlinge und Migranten, die auf Booten nach Griechenland übersetzen, zurück in die Türkei geschickt werden können. Die EU wollte im Gegenzug für jeden abgeschobenen Syrer einen syrischen Flüchtling aus der Türkei aufnehmen.
Das Bundesinnenministerium hatte am Mittwoch mitgeteilt, dass seit März 2016 im Rahmen des Flüchtlingspakts zwischen der EU und der Türkei 1904 Menschen von Griechenland in die Türkei rückgeführt wurden. In der gleichen Zeit nahm die EU dem Bericht zufolge 24.348 Syrer aus der Türkei auf, Deutschland allein 8896 von ihnen.
Die EU hatte der Türkei sechs Milliarden Euro über mehrere Jahre für die Versorgung der Flüchtlinge zugesagt. Präsident Recep Tayyip Erdogan wirft der EU aber regelmäßig vor, ihre Versprechen nicht einzuhalten, und droht mit einem Bruch des Abkommens.
Die stellvertretende Vorsitzende der Linken-Fraktion, Sevim Dagdelen, erklärte, die Zustände in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln seien desolat. "Griechenland darf damit nicht alleingelassen werden." Nachhaltig werde aber nur geholfen, "wenn die Bundesregierung endlich die Fluchtursachen bekämpft".
Seehofer sagte in der Haushaltsdebatte des Bundestags: "Wir brauchen dringend eine europäische Asylpolitik." Der Migrationsdruck sei nach wie vor hoch. Er forderte die Bundesländer zu größeren Anstrengungen bei der Rückführung ausreisepflichtiger Asylbewerber auf. Dazu habe der Bundestag neue rechtliche Möglichkeiten geschaffen, die die Länder jetzt aber auch nutzen müssten.
Erstmeldung: Türkei-Deal jetzt endgültig auf der Kippe? „Wenn er scheitert, dann ...

Athen/Ankara - Mal sind es einige Dutzend, mal mehrere Hundert - an den griechischen Inseln im Osten der Ägäis kommen derzeit fast täglich Migranten auf der Suche nach einem besseren Leben an. Mit kleinen Booten legen sie an der türkischen Westküste ab und machen sich auf den Weg zu den nahe gelegenen Inseln Lesbos, Samos oder Kos.
Und mit ihnen stellt sich die Frage, ob einer der Grundpfeiler der europäischen Migrationspolitik gescheitert ist. Ein Pfeiler, den die angehende EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gerade erst „wichtig und komplex“ nannte. War es das mit dem Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei?
Türkei-Deal: Merkel im Gespräch mit Erdogan
Fast dreieinhalb Jahre ist es her, dass dieser Deal mühsam verhandelt wurde. Am 18. März 2016 einigten sich Kanzlerin Angela Merkel, die anderen EU-Staats- und Regierungschefs und der damalige türkische Regierungschef Ahmet Davutoglu auf das sogenannte EU-Türkei-Abkommen: Unter anderem sollten Migranten, die illegal nach Griechenland übersetzen, künftig in die Türkei zurückgeschickt werden können. Die EU wollte im Gegenzug für jeden abgeschobenen Syrer einen syrischen Flüchtling aus der Türkei aufnehmen. „Wer sich auf diesen gefährlichen Weg begibt, riskiert nicht nur sein Leben, sondern hat eben auch keine Aussicht auf Erfolg“, befand Merkel damals.
Das Abkommen zeigte zunächst Wirkung - und beruhigte die Lage auf den griechischen Inseln etwas. Mittlerweile kommen aber wieder deutlich mehr Menschen. Seit April steigt die Zahl der ankommenden Migranten. Im August waren es nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR mehr als 8000 - ein Jahr zuvor gerade mal 3200. In den sogenannten Hotspots und um sie herum leben mehr als 25 000 Menschen, 4200 von ihnen minderjährig und ohne Begleitung. Insgesamt sind die Lager auf Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos für 6300 Menschen ausgerichtet. Rundherum haben sich Satellitencamps gebildet, in denen die Menschen in Zelten oder unter Plastikplanen hausen.
Flüchtlinge in Griechenland: Bearbeitung der Asylanträge dauert zu lange
Alle Versuche, die Situation zu entschärfen, scheitern bislang. Die im Juli abgelöste linke griechische Regierung von Alexis Tsipras entlastete die Camps zwar punktuell, indem sie einige Tausend Migranten zum Festland brachte. Vor allem die Bearbeitung der Asylanträge und das Abschieben jener, die nicht asylberechtigt sind, dauert nach Ansicht der EU-Kommission aber viel zu lange. Zu wenig Personal, argumentierte die Tsipras-Regierung. Teils reisten Asylbearbeiter, die aus anderen EU-Staaten zur Hilfe gekommen waren, wegen schlechter Arbeitsbedingungen allerdings auch unverrichteter Dinge wieder ab.
Die neue konservative Regierung unter Premier Kyriakos Mitsotakis gelobt Besserung - und behauptet, ihre Vorgänger hätten Flüchtlinge aus ideologischen Gründen nur schweren Herzens zurück in die Türkei geschickt. Nach Angaben der EU-Kommission mussten bis März 2019 nur gut 2400 Syrer zurück in die Türkei. EU-Staaten hätten hingegen bereits mehr als 20.000 schutzbedürftige Syrer direkt aus der Türkei aufgenommen.
Türkei: Erdogan hat mehr als 3,6 Millionen Flüchtlinge aufgenommen
Dort jedoch dreht sich der Wind. Seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien 2011 hat die Türkei mehr als 3,6 Millionen Geflüchtete aus dem Nachbarland aufgenommen, mehr als jedes andere Land der Welt. Nun erhöht die Regierung den Druck auf die Flüchtlinge, die der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan einst als „Gäste“ willkommen geheißen hatte - unter anderem wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage. Die jahrelang geduldete Praxis etwa, dass Syrer, die nicht in Istanbul registriert sind, dennoch in der Millionenmetropole leben, wird nicht mehr akzeptiert, die betroffenen Flüchtlinge müssen die Stadt verlassen. Das jedoch stellt viele vor existenzielle Probleme.
Erdogan versucht, innenpolitisch zu punkten. Jüngst drohte er der EU, die Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen, sollte die Türkei nicht mehr finanzielle Unterstützung erhalten. Einen möglichen Zustrom könne sein Land nicht alleine schultern. Erdogan fühlt sich alleingelassen und hat immer wieder beklagt, Hilfsgelder würden nur schleppend ausgezahlt. Ein Angriff auf die EU in Sachen Flüchtlinge kommt beim heimischen Publikum an.
Erdogan punktet in der Türkei mit Angriffen auf die EU
Tatsächlich könnte der Türkei ein neuer Flüchtlingsandrang drohen. In den vergangenen Wochen eskalierten die Kämpfe um Syriens letztes großes Rebellengebiet Idlib, das an die Türkei grenzt. Syrische Regierungstruppen rückten gegen die Rebellen vor.
In dem Gebiet leben rund drei Millionen Flüchtlinge. Sollten die Truppen von Syriens Präsident Baschar al-Assad weitere Gebiete einnehmen, könnten die Menschen versuchen, in die Türkei zu kommen - und von dort in die EU. Schon vor Tagen demonstrierten Syrer an der Grenze und verlangten von der Türkei, diese zu öffnen. Statt neue Flüchtlinge aufzunehmen, will Erdogan sie in einer sogenannten Sicherheitszone in Nordsyrien ansiedeln. Mit den USA verhandelt er gerade über die Einrichtung einer solchen Zone.
Türkei-Deal: EU zahlt sechs Milliarden Euro Unterstützung
Ganz allein lässt die EU die türkische Regierung nicht. Sechs Milliarden Euro sagte die Staatengemeinschaft der Regierung in Ankara für die Jahre 2016 bis 2019 für die Versorgung von Flüchtlingen zu. Davon seien bereits 3,5 Milliarden Euro vertraglich vergeben teilte die EU-Kommission jüngst mit. Ausgezahlt wurden davon nach Angaben der Behörde 2,4 Milliarden. Mehr als 80 Projekte seien angelaufen.
Drohungen aus Ankara, überfüllte Lager auf griechischen Inseln, kaum Abschiebungen in die Türkei. Platzt das Abkommen zwischen der EU und der Türkei also bald? Die EU-Kommission beantwortet diese Fragen gewohnt nüchtern: „Wir glauben daran, dass wir die Arbeit mit unseren türkischen Partnern in gutem Vertrauen fortsetzen können“, heißt es auf Anfrage. Dennoch nehme man die hohe Zahl ankommender Migranten auf Lesbos mit Sorge zur Kenntnis. Zugleich stellt die Brüsseler Behörde klar: Im Vergleich zu jener Zeit vor dem EU-Türkei-Abkommen handele es sich nur um einen Bruchteil.
Türkei-Deal: Noch nicht gescheitert
Auf diese Zahlen verweist auch Migrationsforscher Gerald Knaus, der das EU-Türkei-Abkommen 2016 mitentwickelt hat - und unlängst in einem Interview mit dem Münchner Merkur* vor unmenschlichen Zuständen in griechischen Lagern warnte. Ja, im August seien mehr Menschen gekommen als in jedem Monat seit März 2016. Doch die Gesamtzahl 2019 sei bislang noch immer halb so hoch wie allein im Februar 2016. Zugleich handele es sich nur um ein vernachlässigbare Größe, wenn man bedenke, dass in der Türkei rund 3,6 Millionen Syrer Schutz bekämen.
Die Vorstellung, die Türkei habe ihre Grenzen bereits geöffnet, sei absurd, sagt Knaus. „Wir haben es mit einem Wachstum zu tun, und das ist ein ernstes Zeichen. Aber die Situation ist noch nicht außer Kontrolle.“ Noch gebe es die Chance, das Abkommen zu retten. Dazu müsse es dringend einen Plan zur Unterstützung der griechischen Behörden geben.
Flüchtlinge in Griechenland: Die Situation eskaliert
Asylanträge müssten innerhalb weniger Wochen bearbeitet und Migranten dann zeitnah zurück in die Türkei geschickt werden, sagte Knaus. Dabei sollten die griechischen Behörden Hilfe etwa von erfahrenen deutschen, französischen oder niederländischen Asylbearbeitern bekommen. Mit Blick auf das Abkommen sagte Knaus weiter: „Wenn es zusammenbricht, dann wegen des Scheiterns auf den griechischen Inseln.“
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat mit Erdogan noch am Mittwochabend über das weitere Vorgehen in der Zusammenarbeit gesprochen. Und über den Umgang mit den Menschen, die nun wieder vermehrt vor dem Krieg in Syrien fliehen.
Griechenland: Die Situation eskaliert - Leiter von Flüchtlingslager gibt auf
Am selben Abend wirft der Leiter des umstrittenen Flüchtlingslagers Moria auf der griechischen Insel Lesbos sozusagen das Handtuch: Er gehe „erhobenen Hauptes“, sagte Yannis Balpakakis der griechischen Nachrichtenagentur ANA am Mittwoch. Er habe „unter schwierigen Umständen getan, was getan werden musste“ und sei nun „müde“.
Das Lager steht seit Jahren in der Kritik, da es chronisch überfüllt ist. Nach der Ankunft von 3000 neuen Flüchtlingen im August hatte sich die ohnehin schwierige hygienische Situation in dem inmitten von Olivenhainen gelegenen Zeltlager weiter verschlechtert. Ende August lebten nach UN-Angaben fast 11.000 Menschen in dem Lager, das eigentlich nur für 3000 ausgelegt ist.
Anfang des Monats wurden mehr als 600 Afghanen in Flüchtlingslager auf dem Festland umgesiedelt, doch seither kamen täglich dutzende neue Migranten auf Lesbos an.
Die Situation in den großen Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln in der Ostägäis scheint für die griechischen Behörden nicht mehr zu lösen. Die Regierung will jetzt die drei größten Lager schließen. Ein folgenreicher Entschluss.
VON MICHEL WINDE; gt / dpa
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